Die Dunkelheit kann unser Licht niemals auslöschen
Ein Gastbeitrag von Yoel Schukkmann, übersetzt und redaktionell bearbeitet von Anemone Rüger
Bei allem, was in diesen Tagen passiert, gibt es leider viel Negatives zu berichten. Aber dieses Mal möchte ich über das Gute schreiben, das aus der Tragödie des 7. Oktober hervorging.
Jüdische Gelehrte lehren uns, dass die Generation des Turmbaus zu Babel etwas Besonderes hatte. Ja, diese Menschen wollten sich gegen G-tt auflehnen. Aber sie waren geeint. Sie waren ein Volk mit einer Mission, was ihnen die Fähigkeit verlieh, ein so großes Projekt zu bauen. Heute erleben wir, dass auch das jüdische Volk wieder eins ist und eine Mission hat.
Füreinander sorgen
In den vergangenen Wochen hat Israel rund 360.000 Reservisten einberufen – es ist die größte Mobilisierung, die dieses Land seit Jahrzehnten erlebt hat. Doch dies ist nicht die einzige Armee, die in der jüdischen Welt mobilisiert wurde. Auch eine Armee von Zivilisten auf der ganzen Welt hat sich zusammengefunden, um israelischen Soldaten und Ersthelfern zur Seite zu stehen: mit Lebensmitteln, Versorgungsgütern, durch Gebete und moralische Unterstützung.
Im Moment scheint jeder hier damit beschäftigt zu sein, Dinge für die Armee zu kaufen oder zu sammeln; zu kochen, zu backen und den Soldaten Lebensmittel zu liefern, um ihre Rationen zu ergänzen. Es gibt darüber hinaus Tausende von Israelis, die durch den Krieg aus ihren Häusern vertrieben wurden und nun auf die Hilfe von Freunden und Nachbarn – und sogar Fremden – angewiesen sind.
Die letzte Ehre erweisen
In der ersten Kriegswoche fanden die Trauerfeiern für die Gefallenen in ihren Heimatgemeinden statt. Aus Sicherheitsgründen war die Zahl der Trauergäste begrenzt. Doch die Anwohner bildeten jedes Mal entlang der Straßen ein Spalier, wenn die Trauerzüge vorbeikamen.
Wenn „einsame Soldaten“ (Soldaten ohne Familie in der Nähe) beerdigt wurden, kamen Hunderte von Menschen, um ihrer zu gedenken. Auf Bitten der Chevra Kadischa (Bestattungsgesellschaft) meldeten sich zahlreiche Freiwillige, darunter auch ich, um Gräber auszuheben, da die Chevra Kadischa diese Aufgabe nicht mehr alleine bewältigen konnte.
Völlig Fremde besuchten die Familien der Opfer, um den Hinterbliebenen Trost zu spenden. Viele Hunderte von Menschen standen bereits am 8. Oktober in langen Schlangen, die buchstäblich ganze Straßen füllten, um Blut zu spenden.
Hunderte Wohltätigkeitsaktionen täglich
Die Beispiele für all die Chesed (Wohltätigkeit) für unsere Soldaten, die Hatzola- und ZAKA-Helfer (freiwillige Rettungsdienste) und die Evakuierten aus den zerbombten Gemeinden im Norden und Süden Israels sind zu zahlreich, um sie in einem Artikel zu beschreiben.
Kalte und warme Mahlzeiten werden in großer Zahl von Zivilisten gesammelt und an Armeestützpunkte im ganzen Land geliefert. Die Evakuierten werden in Hotels untergebracht und wie Ehrengäste behandelt. Riesige Spenden von neuem Spielzeug für alle Altersgruppen für die evakuierten Kinder werden in den Hotellobbys abgegeben, um ihr Trauma zu lindern.
Nicht koschere Luxusrestaurants in säkularen Städten wie Tel Aviv haben sich freiwillig bereit erklärt, über Nacht koscher zu werden, damit sie täglich fast 1000 Mahlzeiten für die Soldaten zubereiten können. Im Ausland sind die jüdischen Gemeinden sehr aktiv, um alle Arten von lebensrettenden Hilfsgütern zu sammeln und nach Israel zu schicken. Und die Liste geht noch weiter mit Hunderten kleinerer Wohltätigkeitsaktionen, die täglich in der ganzen jüdischen Welt durchgeführt werden.
Ein einiges Volk
Das biblische Hebräisch ist eine heilige Sprache, die alle möglichen versteckten Botschaften enthält. Der Zahlenwert des hebräischen Wortes für Krieg (Milchama) ist 123. Was ist die Lösung für den Krieg? Am Echad (ein einiges Volk), das ebenfalls den Zahlenwert 123 hat. Nur wenn wir wirklich ein Volk sind und uns wie ein Volk verhalten, werden wir diesen Krieg gewinnen können.
Haman = Hamas
Unsere Weisen lehren uns auch, dass alle Propheten und Prophetinnen Israels nicht in der Lage waren, das zu tun, was Haman über Nacht getan hat. Niemand von ihnen konnte unsere Vorfahren dazu bringen, Teschuwa zu tun – zu G-tt umzukehren. Aber „als der König seinen Siegelring von seiner Hand nahm und ihn Haman gab“ (Esther 3,10), war dies der Anlass für das jüdische Volk, umgehend in Liebe zu G-tt und seiner Tora zurückzukehren.
Es ist unglaublich zu sehen, welchen Einfluss die Hamas und ihre Unterstützer weltweit auf Juden in der ganzen Welt und insbesondere auf die israelische Armee haben. Es gibt zahllose Soldaten, die noch nie den Schabbat gefeiert oder Schabbatkerzen angezündet haben – und dies nun zum ersten Mal tun.
Es gibt so viele säkulare Soldaten, die jetzt anfangen, koscher zu essen. Andere legen jetzt jeden Tag Tefilin (Gebetsriemen) an und beten die täglichen Gebete. Es besteht eine große Nachfrage nach Tefilin für diese Soldaten – und Juden aus der ganzen Welt arbeiten aktiv daran, jedem Soldaten sein eigenes Set zu geben (das sehr teuer ist, da es handgefertigt und handgeschrieben ist).
„Wenn ich den Schabbat halte, wird G-tt mich halten“
Die Tora sagt uns, dass wir am Schabbat selbst nicht kochen sollen. Daher müssen alle unsere Speisen – oder heißes Wasser – bereits vor dem Schabbat zubereitet worden sein. Um diese Speisen warm zu halten, verwenden wir spezielle elektrische Kochplatten und Heißwasserbehälter.
Angesichts der plötzlichen Mobilisierung von Hunderttausenden von Reservisten verfügt die Armee jedoch nicht über genügend Mittel, um den gesamten Grundbedarf für die Einhaltung des Schabbats zu decken. Jeder Stützpunkt steht daher in Kontakt mit unzähligen Freiwilligen, die diese Lücke füllen und versuchen, sie mit allem Notwendigen zu versorgen.
So gelang es auch uns, am Freitag der ersten und zweiten Kriegswoche einen vollgepackten Kleinbus mit Kochplatten, Wasserkochern, Kippas, Gebetsbüchern und allerlei Schabbat-Leckereien zu den Armeestützpunkten im Norden zu schicken. All dies wurde von Menschen aus unserer Nachbarschaft in Jerusalem gespendet. Denn es ist, wie es in einem beliebten Schabbat-Lied heißt: Ki eschmera Schabbat E-l jischmereni (wenn ich den Schabbat halte, wird G-tt mich halten).
Immer mehr Soldaten tragen jüdische Symbole
So wie es viele Soldaten gibt, die angefangen haben, den Schabbat zu halten, so gibt es noch viel mehr, die angefangen haben, Zizit (Schaufäden) zu tragen. So sehr, dass es jetzt eine große Nachfrage danach in der Armee gibt. Das Gebot, Zizit anzulegen, wird zweimal in der Tora erwähnt, nämlich in 4. Mose 15,37-41 und 5. Mose 22,12.
Das Sefer haChinoech, ein klassisches jüdisches Werk aus dem 13. Jahrhundert, schreibt, dass wir sie tragen, damit wir immer an die Gebote G-ttes erinnert werden. Denn es gibt keine bessere Erinnerung, als das „Siegel des Meisters“ jederzeit an der Kleidung zu tragen. Außerdem weist der Midrasch, die Sammlung jüdischer Überlieferungen, darauf hin, dass der Zahlenwert des Wortes Zizit 600 beträgt. Addiert man dazu die acht Fäden jeder Ecke des Gewandes und die fünf Knöpfe, mit denen diese acht Fäden gebunden werden, so erhält man 613. Eine Anspielung auf die 613 Mitzvot (Gebote) der Tora.
Es gibt einen Screenshot eines WhatsApp-Chats, der in den jüdischen sozialen Medien massenhaft verbreitet wird. Darin wird von einer Mutter berichtet, deren Tochter eingezogen wurde: „Jetzt, wo du unter all diesen Soldaten bist, solltest du dich auf die Suche nach einem netten jüdischen Mann für dich machen“, schreibt die Mutter. Die Tochter antwortet: „Vor ein paar Tagen hätte ich das noch tun können. Aber jetzt kann ich nicht mehr erkennen, wer dati (religiös) ist und wer nicht, alle tragen eine Kippa und die Zizit!“
Einzigartige Kampagne mit geistlicher Dimension
Aber wie bei den Schabbat-Bedürfnissen hat die Armee weder das Geld noch die Zeit dafür. Deshalb wurden weltweit zahlreiche Projekte ins Leben gerufen, bei denen orthodoxe jüdische Schüler, Männer und Frauen für die Armee Zehntausende grüner Zizit herstellen. Es gibt zwar viele Kampagnen zur Unterstützung der IDF (Israel Defense Forces), aber diese hier ist einzigartig, weil sie auch eine geistliche Dimension hat. Für uns als religiöse Juden ist sie genauso wichtig wie jede andere Kampagne, denn sie bietet unseren Soldaten geistlichen Schutz. Die Zizit erinnern sie zu jeder Zeit daran, wer sie sind und dass G-tt immer mit ihnen ist.
Eine starke Verbindung
Rabbi Avremi Lehrer hilft Patienten und Mitarbeitern des Barzilai-Krankenhauses in Aschkelon regelmäßig beim Anlegen der Tefilin. Aber es gibt einen Arzt, der dies immer höflich abgelehnt hat. Dieses Krankenhaus war das medizinische Epizentrum nach den schrecklichen Terroranschlägen vom 7. Oktober. Nach mehreren sehr intensiven Tagen brachte Rabbi Lehrer schließlich seine Tefilin für das Personal und die Opfer zurück. Doch der Arzt, der nie Tefillin legen wollte, kam nun zu ihm und fragte, ob er sie anlegen dürfe.
„Wenn Juden ermordet werden, nur weil sie Juden sind, ist unsere Antwort darauf, unsere Verbindung zu G-tt zu stärken“, erklärte der Arzt. Als der Arzt die Tefillin anlegte, kamen Rabbi Lehrer die Tränen.
Israelische Metamorphose
In der Nacht von Sonntag auf Montag gelang es der IDF, eine israelische Soldatin aus dem Gazastreifen zu befreien, die am 7. Oktober gefangen genommen worden war. Wenige Augenblicke nach Bekanntwerden dieser Nachricht bat der säkulare Fernsehmoderator Sharon Gal in einer Live-Sendung des israelischen Senders Channel 14 einen orthodoxen jüdischen Gast, sich seine Kippa zu leihen, um G-tt mit einem Segensspruch für diese Nachricht zu danken: „Baruch ata Hashem, Elokeinu Melech Ha’Olam matir assurim!“ (Gesegnet seist du, Haschem, unser G-tt, König der Welt, der die Gefangenen befreit).
Noch vor wenigen Monaten schien es, als stünde Israel am Rande eines Bürgerkriegs, der sich um die vermeintliche religiöse Identität des Staates drehte. Jetzt, nach diesen schwierigen Wochen, sehen wir, wie sich nichtreligiöse Juden in ganz Israel auf tiefgreifende und inspirierende Weise mit ihren jüdischen Wurzeln verbinden.
Das ist die Wirkung, die die Hamas auf unser Volk hat. Anstatt uns zu spalten oder uns von G-tt zu entfernen, hat sie uns nur dazu gebracht, unserem Vater im Himmel näher zu kommen.
„Wer dich segnet, wird gesegnet werden“
Am letzten Schabbat haben wir von dem Gebot G-ttes an Abraham gelesen, sein Heimatland zu verlassen. Einen Vers später lesen wir, dass G-tt zu ihm sagt: „Wer dein Volk – das jüdische Volk – segnet, wird gesegnet werden; und wer dich verflucht, den werde ich verfluchen“. Aber wenn wir uns die hebräischen Worte ansehen, stellen wir fest, dass sie nicht konsequent gebraucht werden.
In dem Vers „Wer dich segnet, wird gesegnet werden“ verwendet die Tora dasselbe Wort, um einen Segen zu beschreiben: Baruch (Segen). Aber wenn es um den Fluch geht, heißt es: „Wer dich verflucht (umekalelcha), den werde ich verfluchen.“ Doch hier verwendet die Tora nicht dasselbe Wort, um den Fluch zu beschreiben. Der Vers hätte das Wort akalel (ich werde fluchen) verwenden müssen. Aber stattdessen wird ein anderes Wort verwendet: Aor.
Vielleicht können wir diese Ungereimtheit damit erklären, dass das Wort Aor auch das Wort Or enthält – was Licht bedeutet. Wir könnten den Vers also auch so lesen: „Wer das jüdische Volk segnet, wird gesegnet werden. Wer es aber verflucht, wird ihr Licht sehen!“
Unser Licht
Wer in unseren dunkelsten Zeiten mit uns ist, wer jetzt unser Freund ist, der wird gesegnet sein. Aber wer uns verflucht, der wird unser Licht sehen. Der wird schnell erfahren, wozu das jüdische Volk fähig ist. Der wird sehen, wie wir zusammenstehen. Wie wir zu unserem himmlischen Vater und seinen Geboten zurückkehren.
Der wird ein Volk erleben, das widerstandsfähiger ist als alles andere. Der wird sehen, wie Menschen sich freiwillig engagieren, Lebensmittel verpacken, Vorräte schicken, Armeestützpunkte besuchen, Mahlzeiten kochen und Zizit herstellen. Der wird sehen, wie bekannte Sänger in Armeestützpunkten und Krankenhäusern singen, um ihre Brüder zu ermutigen, wie sie tanzen, zusammenstehen und lachen. Ein Volk, das gemeinsam trauert und eins ist. Unsere Feinde dachten, sie könnten Dunkelheit bringen. Aber sie hatten keine Ahnung, wie hell unser Licht leuchtet.
Die Dunkelheit kann unser Licht nie auslöschen
Und wie passend, dass G-tt Abraham diese Verheißung gibt, als er im Begriff ist, in das Land Israel zu ziehen. Dunkelheit ist einfach die Abwesenheit von Licht. Solange wir als Volk hell leuchten, sorgen wir dafür, dass die Dunkelheit unserer Feinde niemals einen Platz in dieser Welt haben wird. Das jüdische Volk ist – und bleibt – die Quelle des hellen Lichts in dieser Welt. Die enorme Menge an Chesed (Wohltätigkeit), die in Israel und auf der ganzen Welt getan wird, ist Teil dieses Lichts, das uns durch diese Dunkelheit tragen wird.
Und keine noch so große Dunkelheit kann dieses Licht auslöschen.
Yoel Schukkmann wuchs in den Niederlanden auf, wo er chassidisch wurde, was wir als „ultraorthodoxes“ Judentum bezeichnen würden. Deshalb zog er als Jugendlicher nach Israel, um an einer Talmudschule (Jeschiwa) zu lernen. Yoel lebt heute mit seiner Frau und seinen zwei Kindern in Jerusalem. Er ist Redner, unterrichtet Jeschiwa-Jungen und lernt in einem Kollel, einem Lerninstitut für verheiratete Männer.
Dieser Artikel erschien zuerst auf Niederländisch bei https://www.christenenvoorisrael.nl
Anmerkung der Redaktion: „G-tt” ist eine vermeidende Schreibweise im Judentum, deren Ziel es ist, den Namen Gottes nicht in eine Form zu bringen, in der er beschmutzt oder zerstört werden kann.