• Im ukrainischen Poltawa, das kurz zuvor von einem verheerenden russischen Angriff getroffen wurde, erleben CSI-Mitarbeiter und jüdische Senioren im Haus des Rabbis besonders berührende Momente. Alle Fotos: CSI
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Zwischen Sirene und Schofar – Begegnungen im kriegserschütterten Poltawa

editor - 2. Oktober 2024

Auch wenn der Krieg in der Ukraine bereits mehr als zweieinhalb Jahre andauert – „gewöhnen“ kann man sich an diesen furchtbaren Zustand nicht. Jede Entscheidung unserer Mitarbeiter von Christen an der Seite Israels (CSI), vor Ort zu trösten und zu helfen, will immer wieder neu errungen sein. Und immer wieder „funktioniert“ es – die Liebe von gläubigen Christen, gerade aus Deutschland, trifft die Herzen der Holocaust-Überlebenden tiefer als zu je zuvor. Ausgerechnet jetzt kommt Heilung, auf die viele ein ganzes Leben gewartet haben.

Vielleicht sollte ich dieses Mal doch besser umkehren. Die Logistik stellt mich schon lange vor Passieren der ukrainischen Grenze vor schier unüberwindliche Hindernisse. Und gerade erhalte ich die Nachricht, dass mein Hauptreiseziel Poltawa von einem russischen Raketenangriff getroffen wurde – eine Ausbildungseinrichtung, ein Krankenhaus, einige Wohnhäuser. Die Zahl der Toten und Verletzten steigt stündlich; es ist einer der tödlichsten Angriffe seit Ausbruch des Krieges vor zweieinhalb Jahren. Dann schreibt mein Kollege aus der Ukraine: „Lass uns jetzt nicht aufgeben. Wann brauchen die Menschen Trost, wenn nicht jetzt? Es ist alles vorbereitet. Die Leute warten auf dich.“ Es wird eine der stärksten Reisen bisher.

Ankommen in einer verwundeten Stadt

Poltawa assoziiere ich mit einem ausgedehnten, bunt bepflanzten Park, mit einem phänomenalen georgischen Restaurant und mit einem sehr engagierten Rabbiner, der seine Business-Karriere aufgab, um der jüdischen Gemeinde zu dienen. Nun ist es eine schwer verwundete Stadt. „Unsere Kinder haben den Einschlag von der Schule aus gehört“, erzählt uns Rabbi Josef später. Wir checken in unserem kleinen Hotel ein und ich versuche, meine Kollegen, die sich schon zum Abendessen niedergelassen haben, vom Fenster wegzubekommen. „Vor dem Fenster ist noch eine zweite Fensterfront“, versucht Fahrer Igor mich zu beruhigen. Besonders genau ist das Warnsystem nicht – bei jedem Drohnenanflug wird der ganze Verwaltungsbezirk in Alarmbereitschaft versetzt. Wohin soll man auch gehen? Poltawa ist nicht Israel mit seinen vielen Schutzräumen. Gegen Morgen wache ich mal wieder von der Entwarnungs-Sirene auf.

Poltawa hat sich mit seinen 300.000 Einwohnern zwischen der ukrainischen Hauptstadt Kiew und der einstigen Zwischenkriegshauptstadt Charkow gut eingerichtet. In den vergangenen Jahren hat die Stadt viele Flüchtlinge aus der stark angegriffenen Ostukraine aufgenommen. Auch in der jüdischen Gemeinde lernen wir immer wieder neue Überlebende kennen.

Soyas scheinbar unbeschwertes Lächeln täuscht

Soya begrüßt uns mit einem freundlichen Lächeln. Sie bittet uns, auf ihrem alten sowjetischen Sofa Platz zu nehmen. Soya freut sich über die hübsche Tüte mit Obst und Fleisch und Käse und Saft und Gebäck; über uns und über die Aufmerksamkeit. Es scheint ein sonniger, leichter Besuch zu werden … bis Soya anfängt, von ihrer Kindheit zu erzählen. Ihr Großvater Schaul besuchte trotz Verfolgung jeden Schabbat die Synagoge. Er war so arm, dass er sich bei einem Schuster dafür jeweils ein Paar Schuhe auslieh, das zur Reparatur gebracht worden war.

„Ich war gerade zwei, als der Krieg 1941 begann“, erzählt Soya. „Papa ist gleich an die Front. Mama ist mit uns vier Geschwistern und ihren Eltern in einem Güterzug nach Osten geflohen. Einmal ist Mama an einem Bahnhof raus, um Wasser zu holen, damit sie uns Kinder waschen kann. Plötzlich ist der Zug bombardiert worden.“ Panik brach aus. Verzweifelt suchte Soyas Mutter Zippora nach ihrer Familie. Sie fand ihre Eltern, die sich über ihren ältesten Jungen geworfen hatten – alle drei tot. Von den anderen drei Kindern gab es keine Spur. Nach unendlich qualvollen Tagen gab Zippora die Suche auf und meldete sich freiwillig an die Front.

Von der Mutter getrennt überleben

„Mein achtjähriger Bruder hat mich und meine Schwester Margarita aus dem Zug geholt“, berichtet Soya weiter. „Wir haben uns irgendwo in den Ruinen versteckt. Es hat lange gedauert, bis uns jemand gefunden hat – verdreckt und ausgehungert. Mama hatte unsere Namen und unsere Heimatstadt Poltawa auf die Jacken aufgenäht. So sind wir in die Datenbank für ‚gefundene Kinder‘ eingetragen worden. Sie haben uns in Tobolsk in Sibirien in ein Waisenhaus gesteckt. Aber dort gab es auch nichts. Meine Geschwister sind dort beide gestorben. ‚Asthma‘ haben die Behörden als Todesursache angegeben. Aber ich glaube nicht, dass das gestimmt hat. Sie sind einfach verhungert, aber ‚Unterernährung‘ wollte damals niemand zu Protokoll geben. So bin ich ganz allein übriggeblieben.“ Als Soja mit tränenerstickter Stimme diese Worte ausspricht, ertönt die Sirene. Luftalarm. Es ist ein surrealer Moment. Alles, was ich tun kann, ist, Soya in den Arm zu nehmen.

Soya hat sich ihr freundliches Lächeln bewahrt, ihrer traurigen Geschichte zum Trotz.

Ganz allein in einer Ecke

Wie viel Schmerz kann eine Kinderseele aushalten? Nun wurde Soyas Leidensweg noch einsamer. Da sie an akutem Vitaminmangel litt, entwickelte sie am ganzen Körper Geschwüre. Den sowjetischen Erziehern fiel nichts Besseres ein, als Soya in eine Ecke zu setzen, mit einer Reihe Stühle abzugrenzen und den Kindern zu verbieten, mit ihr zu spielen.

„So saß ich da in der Ecke, immer ganz allein. Ich hatte gar niemanden mehr“, fährt Soya fort. „Manchmal haben die anderen Kinder gesungen und sind im Reigen getanzt. Da habe ich mit den Füßen mitgewippt. Sie haben sich über mich lustig gemacht. Da habe ich für mich angefangen zu tanzen. Sie haben mich beschimpft und ich habe getanzt, trotz allem.“

Von der Ecke auf die Bühne

Soyas Mutter überlebte eine schwere Verwundung an der Front, wurde mit Kriegsorden geehrt und konnte Soya schließlich ausfindig machen. Später wurde Soya Ballerina. Sie hat ihr ganzes Leben lang getanzt, hat sich das ganze unfassbare Leid ihrer Kindheit von der Seele getanzt. Sie wurde Ärztin. Begrub ihren Mann, dann ihre Tochter. Ihre Ballerinas, die Tanzschuhe, trägt sie immer noch.

Für wen könnten die Worte aus Jesaja 62 besser passen: „Du wirst eine schöne Krone sein in der Hand des Herrn“? Wir sprechen sie Soya direkt ins Herz und wickeln sie in ein Schultertuch, das meine Augsburger Freundin Lisbeth für sie gestrickt hat.

Eingeladen zum Rabbi

Auch in Poltawa haben wir die jüdischen Senioren, die über unser Patenschaftsprogramm unterstützt werden, zu einem Gemeinschaftsessen eingeladen. Als sich herausstellte, dass wegen des jüngsten Anschlags viele der Senioren noch im Schockzustand sind und das Haus nicht verlassen möchten, entschieden Rabbi Josef und seine Frau Dina kurzerhand, unser gemeinsames Essen mit Musik bei sich zu Hause stattfinden zu lassen.

Etwas schüchtern kommen sie hereinspaziert zum Klang von Geige und Akkordeon – Nina und Swetlana, Viktor und Igor und die vielen lieben jüdischen Senioren, deren Gesichter mir von meinem letzten Besuch vor einigen Jahren noch bekannt vorkommen. Nach einigen Minuten tauen sie auf, angeregte Unterhaltungen entwickeln sich.

Für die jüdischen Senioren aus dem CSI-Patenschaftsprogramm ist bei Rabbi Josef eine lange Tafel gedeckt.

„So etwas haben wir hier noch nie gemacht“, sagt Rabbi Josef zu uns. „Zum Schabbat decken wir immer für Dutzende Leute ein, für alle, die zum Gebet kommen. Aber für diese Zielgruppe ist es das erste Mal, dass sie bei uns zu Gast sind. Das war eine gute Idee!“

Ein Fest für die, die nichts zurückgeben können

Dina, die Mutter von zehn Kindern ist und wie Ende 20 aussieht, tafelt das selbstgekochte koschere Essen persönlich auf. Die Rabbinerfamilie, die selbst mit einer sagenhaften Gastfreundschaft zugange ist, dankt uns von Christen an der Seite Israels, dass wir das Treffen ermöglichen.

„Wir sind jetzt im Monat Elul, dem letzten Monat im jüdischen Kalenderjahr, bevor Rosch HaSchana kommt. Es ist eine Zeit, wo wir unsere Herzen überprüfen, ob wir in allem mit Gott im Reinen sind“, erklärt Rabbi Josef. „Wir sind umgeben von Tragödien, es passiert so viel Schlimmes um uns herum. Aber auch das muss uns zum Guten dienen. In dieser Zeit blasen wir jeden Tag den Schofar. Wir tun das, um die Seele zu wecken, sich auf die Begegnung mit Gott vorzubereiten.“

Der Abschied dauert zehnmal länger als die Begrüßung. Keiner will so schnell gehen. Für viele, gerade die Geflohenen, ist die jüdische Gemeinde ein zweites Zuhause geworden – und die Mitarbeiter von CSI gehören inzwischen zur Familie.

Für jeden Gast gibt es am Ende eine Wärmflasche und eine Lebensmitteltüte mit nach Hause.

Wenn Sie unsere Arbeit mit Holocaust-Überlebenden und jüdischen Senioren in der Ukraine unterstützen möchten, können Sie über eine einmalige Spende die Besuche unseres Teams mit punktuellen Hilfeleistungen ermöglichen oder auch eine langfristige Patenschaft für einen Bedürftigen übernehmen. Weitere Informationen finden Sie hier.