• Das Poster mit dem verzweifelten Aufruf, Alexander nach Hause zu bringen, hängt immer noch an Bauzäunen und Wänden in Aschkelon. Alle Fotos: privat (Homepage C4I Deutschland)
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Alexanders Vermächtnis: Besuch bei der Witwe einer ermordeten Hamas-Geisel

editor - 11. Dezember 2024

Am 427. Tag des Krieges in Israel sind immer noch 101 israelische Geiseln in den Händen von Hamas-Terroristen. Für die Angehörigen bedeutet dieser Zustand ein tägliches Sterben. Andere haben ihre Lieben, die am 7. Oktober 2023 entführt wurden, schon beerdigt. So auch Michal, die mit Mitte 20 bereits Witwe ist. Unsere CSI-Mitarbeiter konnten sie Ende November besuchen.

Von Anemone Rüger

Wenn man nach Aschkelon einfährt, fallen die Poster von Alexander Lobanov auf, die überall noch an Anschlagtafeln und Bauzäunen hängen. Alex war einer der sechs von Hamas-Führer Sinwar handverlesenen menschlichen Schutzschilde, die von der Israelischen Verteidigungsarmee (IDF) in einem der Tunnel am 2. September tot aufgefunden worden waren. Michal, die mit Alex verheiratet war, ist einverstanden, dass ein kleines Team von Christen an der Seite Israels (CSI) sie besuchen kommt.

„Wow“, sagt Michal nur, als wir ihr den riesigen rosa Blumenstrauß überreichen, den unser Lieblingsflorist in Jerusalem am Morgen gebunden hat. „Wow. Solche Blumen gibt es bei uns in Aschkelon nicht zu kaufen!“ Michal fragt jeden von uns der Reihe nach, wie wir unseren Kaffee gerne hätten. Sie macht den Eindruck einer ganz normalen, netten jungen Frau, die den Vormittag nutzt, um sich mit Freunden zu treffen, während ihre Kinder in der Kinderkrippe sind. Aber Michal ist alles andere als eine gewöhnliche Frau. Sehr ruhig und sehr gefasst erzählt sie uns von der Liebe ihres Lebens.

„Alex war eine der Geiseln, die am längsten vermisst wurden – 18 Tage lang wusste niemand etwas über ihn. Er war am 7. Oktober auf dem Nova-Festival in Re‘im. Er hat dort an einem Imbisswagen gearbeitet. Nach dem Überfall der Hamas hat er es noch geschafft, mit ein paar Freunden bis an den Ortsrand von Be’eri zu fliehen. Dort haben sie sich in den Büschen versteckt.“ Doch ihr Versteck konnte nicht lange Schutz bieten. Zwei palästinensische Teenager, zwischen 15 und 17 Jahren alt, warfen ein Netz über Alex. Dann stellten sie ihn vor die Wahl, sofort hingerichtet zu werden oder mitzukommen. Die erste Nacht verbrachte er in ihrem Haus. Dann verkauften die beiden palästinensischen Halbwüchsigen ihre Trophäe Alex an die Hamas. Woher Michal all das weiß?

Alexander, gebürtig aus Russland, war eine der sechs Geiseln, hinter denen sich Hamas-Führer Sinwar verschanzt hatte.

„Die Geiseln, die im Juni von den IDF-Streitkräften befreit werden konnten, waren die ersten drei Monate mit Alex zusammen gefangen“, berichtet Michal. „Sie haben viel miteinander geredet. Alex hat immer von seiner Familie erzählt, die ihm so viel bedeutet hat.“ Dann wurde Alex „verlegt“ – als Inhaber der russischen Staatsbürgerschaft war er eine von sechs Geiseln mit hohem strategischen „Wert“, mit denen sich Sinwar fortan umgab.

Russische Wurzeln

Alex war in einem kleinen russischen Dorf aufgewachsen. Als er acht Jahre alt war, wanderten seine Eltern mit ihm nach Israel aus, um dem wirtschaftlichen Chaos der 1990er zu entkommen. Mit der Zeit gewannen sie das Land von Herzen lieb. Hier lernte Alex dann Michal kennen, die in Israel aufwuchs. „Aber russische Wurzeln habe ich auch“, erzählt sie uns. „Meine Eltern sind aus St. Petersburg eingewandert. So viel Antisemitismus … sie können ein Lied davon singen. Jetzt machen sie sich bittere Vorwürfe. Sie lieben Israel. Aber es ist schwer für sie, dass ihre Tochter so leiden musste.“

In Hamas-Gefangenschaft beging Alex seinen 33. Geburtstag. „Tim hat jeden Tag nach seinem Papa gefragt“, erzählt Michal. „Anfang des Jahres ist unser kleiner Kai zur Welt gekommen. Und ich musste stark sein – für die Kinder. Das Aller-Allerschlimmste ist die Ungewissheit: Das ist viel schlimmer, als tot zu sein. Ich bin jeden Tag gestorben, ein Jahr lang.“

Schon in den ersten Wochen des bangen Wartens machte Michal eine besondere Bekanntschaft: die von Jael, einer Mitarbeiterin der Lebensschutz-Organisation Be’ad Chaim, die von CSI unterstützt wird. „Damals gab es sehr, sehr viel mediale Aufmerksamkeit für unsere Familie. Alex war ein sehr medienwirksamer Fall“, erinnert sich Michal. „Eines Tages hat Jael mich über Facebook kontaktiert. Sie wollte einfach wissen, wie es mir geht – wir wohnen in der gleichen Stadt. Ich wollte zu der Zeit kaum mit jemandem reden. Aber mit Jael habe ich mich gleich verbunden gefühlt. Sie ist in diesem Jahr wie eine Schwester für mich geworden. Ich weiß nicht, was ich ohne sie gemacht hätte.“

Yael (M.), eine Mitarbeiterin von Be’ad Chaim, baute den Kontakt zu Michal auf. Ebenfalls im Bild: Die CSI-Mitarbeiter Delly Hezel (l.) und CSI-Vorstandsmitglied Markus Neumann.

Es waren Menschen wie Jael, und die befreiten Geiseln, die Alex zuletzt gesehen hatte, die Michal stützten und trösteten, als sie mit ihren beiden kleinen Söhnen nach Alex‘ Ermordung an dessen Grab stand. „Kurz nachdem unsere Soldaten die Leichen der sechs Geiseln gefunden hatten, sollten die Angehörigen zur Identifizierung kommen. Ich muss sagen, es war gut für mich, Alex noch einmal zu sehen. Es war gut, dass es erst zwei Tage her war. Es war noch mein Alex, der da lag. Ich habe ihn gesehen und ich konnte Abschied von ihm nehmen. So seltsam es klingen mag, aber ich bin froh, dass es vorbei ist. Für die Familien, die noch um ihre Angehörigen bangen, ist es viel schwerer. Ich versuche, sie so gut es geht zu unterstützen, denn ich weiß, was sie durchmachen.“

Trost und Hoffnung

Das schönste Schultertuch, das mir je jemand zum Verschenken gestrickt hatte, lag schon bereit für Michal. Auch ein Tütchen mit Waffelherzen von meiner Mutter. Aber ich spürte, dass es noch wichtiger war, ihr das Kärtchen vorzulesen und zuzusprechen – das einzige russische Kärtchen, das ich mitgenommen hatte. Das war schwer und kostete mich alle emotionale Kraft, die ich aufbringen konnte angesichts des Leids, das diese wunderbare junge Frau durchmachen musste, und angesichts der Fragen, die ihre Eltern aufwühlten. Aber sie gingen Michal direkt ins Herz. Diese Worte auf Russisch zu hören, in der Sprache ihrer Eltern und ihrer frühen Kindheit, hatte sie nicht erwartet.

„Du aber, Israel, mein Knecht, Jakob, den ich erwählt habe, du Same Abrahams, meines Geliebten, du, den ich fest ergriffen habe von den Enden der Erde her und berufen von ihren Grenzen, zu dem ich sprach: Du sollst mein Knecht sein; ich erwähle dich und verwerfe dich nicht –, fürchte dich nicht, ich bin mit dir; weiche nicht, denn ich bin dein Gott. Ich stärke dich, ich helfe dir auch, ich halte dich durch die rechte Hand meiner Gerechtigkeit.“ (Jesaja 41,8-10)

„Das werde ich meinen Eltern vorlesen; sie werden weinen“, sagt Michal, mit Tränen in den Augen. Vielleicht kommt Michal eines Tages zu Besuch nach Deutschland. „Schwarzwald – das klingt wie ein Traum“, sagt sie zum Abschied.

Michal (2. v. l.) ist unendlich dankbar, Freunde an ihrer Seite zu haben. Der Besuch der CSI-Mitarbeiter Delly, Anemone und Markus (v. l.) macht ihr Mut.

Kurz bevor wir gehen, klingelt es an der Tür. Zwei Polizisten in Uniform. „Keine Sorge, die können so lange auf dem Balkon warten“, beruhigt uns Michal. „Das sind meine Freunde.“ Michal will bald wieder anfangen zu arbeiten. „Es wird gut für mich sein, wieder eine Routine zu haben“, sagt sie. Michal ist von Beruf Polizistin. „Die Terroristen haben mir meinen Alex genommen. Aber ich denke, ich habe diesen Kampf gewonnen: Ich habe ein neues Menschenleben zur Welt gebracht. Alex ist zwar nicht mehr an meiner Seite, aber er hat eine neue Generation hervorgebracht. Das ist unser Sieg.“

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