• Ein Sandsturm auf dem Weg nach Be'er Schewa - er könnte fast sinnbildlich stehen für den Schatten, der sich seit dem 7. Oktober über die Seelen vieler Israelis gelegt hat. Alle Fotos: CSI
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Israel nach dem 7. Oktober: Etwas Größeres als die Angst

editor - 2. Dezember 2023

Seit dem 7. Oktober ist in Israel nichts mehr, wie es war. Eine Mischung aus allgegenwärtigem Schmerz und Sorge um Angehörige liegt in der sonnigen Luft. Und doch ist gerade jetzt eine gute Zeit, um dort zu sein. Jedes Wort der Hoffnung und des Trostes geht um ein Vielfaches tiefer als sonst. Unsere Mitarbeiterinnen Alina (Ukraine) und Anemone (CSI Deutschland) haben Mitte November jüdische Senioren aus der Ukraine und russischsprachige Kontaktpersonen der von CSI unterstützten Programme in Israel besucht.

Heute wollen wir Valeria, die junge Leiterin des Integrationsprogramms First Home in the Homeland, in der Wüste südlich von Be‘er Schewa besuchen, in der Hoffnung, dass auch ihre traumatisierte Kollegin Julia so weit ist, dass sie uns sehen möchte. Die letzte Stunde fahren wir durch eine gelbbraune Nebelwand, der Wind treibt die Sandböen über die Schnellstraße vor uns her. Auf dem Rückweg bekommen wir dafür eine gründliche und kostenlose Autowäsche.

Wie glücklich sind wir, im Kibbutz Revivim sowohl Valeria als auch Julia in den Arm nehmen zu können, die zwei Stunden gefahren war, um uns zu sehen. „Ich kann es nicht glauben!“, sagt Valeria immer wieder. „Vor ein paar Tagen noch haben wir telefoniert und du hast gesagt, wie gerne du jetzt bei mir wärst. Und jetzt bist du wirklich hier!“

Ein Bild aus besseren Zeiten: Julia (Sonnenbrille) und Valeria (Mitte, schwarzes Kleid) mit Neueinwanderern und CSI-Mitarbeitern im Mai 2023.

Ich liebe Mittagessen in der Kibbutz-Kantine. Von Humus bis Blumenkohlsalat, was das Herz begehrt. Alles schön auf abgewetzten Plastiktabletts transportiert. An der Kasse begrüßt Julia herzlich ihre Hebräisch-Lehrerin Ronit, die sie lange nicht gesehen hat. Ich stelle mich Ronit kurz vor und erkläre, warum wir hier sind. Dann nimmt mich Julia beiseite und erklärt mir: „Ronit hat ihren Sohn verloren bei dem Massaker. Er hat bei der Technik gearbeitet bei dem Festival.“ Schon ist das Grauen hautnah. Ich laufe noch einmal zurück zum Auto. Am Morgen hatte ich für den Fall der Fälle ein paar Sträuße rote Anemonen gekauft; die ersten blühen schon im Land.

Wunder mitten im Grauen

Wie gut, dass Julia jetzt reden kann. Alina erzählt zunächst, dass sie gerade von einer nicht ungefährlichen Reise zur jüdischen Gemeinde in Saporischschja zurück ist. Julia erzählt daraufhin von einer jungen Familie aus Saporischschja, die schon 2014 nach Israel eingewandert ist. „Sie hatten gerade die Schwester der Frau aus Saporischschja für einen Monat zu Besuch. Am 7. Oktober hätten sie sie zum Flughafen zurückbringen sollen. Den Kleinen wollten sie so lange allein lassen, so dass er einfach weiterschläft. Sie hätten um viertel nach sechs am frühen Morgen losfahren müssen. Und jetzt stellt euch das vor – sie haben verschlafen! Sie haben einfach das Flugzeug verschlafen! Und das hat sie gerettet! Wenn sie wie geplant gefahren wären, wären sie direkt den Terroristen in die Arme gelaufen!“ „Ich bin eigentlich kein gläubiger Mensch“, fügt Julia noch hinzu. „Aber dass von unseren 150 jungen Familien niemandem etwas passiert ist, das kann man gar nicht anders erklären. Das ist wirklich ein einziges Wunder!“

Jetzt erzählt Julia auch von sich. Die Tochter war bei ihr, der Sohn beim Vater an jenem schicksalshaften Wochenende. Sie wollten zum Schabbat schön ausschlafen und dann vielleicht ans Meer fahren. Als der Raketenalarm sowohl auf dem Handy als auch live in den umliegenden Ortschaften nicht aufhören wollte, merkte Julia, dass etwas nicht stimmte. „Normalerweise instruieren wir unsere Neuankömmlinge, bei Alarm schnell in den Schutzbunker zu gehen; nach zehn Minuten sollte alles vorbei sein. Aber an dem Samstagmorgen dröhnten die Sirenen wie ein Echo rundherum. Ich dachte, das Warnsystem ist kaputtgegangen.“

Kleine und große Helden

Julia ging mit ihrer Tochter in den Schutzbunker. Just in dieser Nacht hatte sie vergessen, das Handy aufzuladen. Erst viele Stunden später erfuhr sie, was sich im Nachbarkibbutz ereignet hatte. „Mischa ist schnell mit unserem Sohn in den Schutzraum. Durch einen Schlitz im Fensterrollo sah er israelische Soldaten in den Kibbutz rennen. Aber irgendetwas an ihnen war seltsam. Dann sah er einen ‚Soldaten‘ mit dem grünen Stirnband der Hamas.“ Geistesgegenwärtig versteckte Mischa seinen Sohn unter dem Bett. „Die Terroristen sind in die Häuser und direkt auf die Schutzräume zu und haben sie in Brand gesteckt oder gesprengt“, erklärt Julia.

Der erste Kibbutznik, der an dem Morgen aus dem Kibbutz Sufa fuhr, war ein guter Freund von Julia, der mit ihr in einer Theatergruppe spielte. Jeden Schabbat besuchte er seine betagte Mutter in Rischon LeZion und ging mit ihr essen. Er war das erste Opfer.

Dann begann Mischa, der als Polizist bewaffnet war, mit noch drei anderen Männern den ganzen Kibbutz gegen Dutzende Terroristen zu verteidigen, die versuchten einzudringen. Er konnte seinen Kollegen, den Sicherheitschef des Kibbutz, warnen, dass die Hamas-Terroristen auf dessen Haus zukommen, und so war dieser vorbereitet und konnte die Terroristen ausschalten.

Viele Stunden lang war Julias Sohn allein unter dem Bett. Als er seine Mutter wiedersah, erzählte er ihr nur, dass ihm irgendwann kalt geworden war. „Aber Papa war die ganze Zeit bei mir.“ Julia sagt den Satz ihres Sohnes aufgewühlt ein paar Mal, bis mir der Gedanke kommt, dass vielleicht der Papa die ganze Zeit spürbar bei ihrem Sohn gewesen war.

Nicht weit von ihrem Kibbutz nahe am Grenzübergang zu Ägypten, wo Julia mit ihrer Tochter ausharrte – inzwischen ohne Lebenszeichen von der Außenwelt –, gibt es einen Militärstützpunkt. Etwas abseits war eine kleine Panzereinheit stationiert, in der neuerdings auch Frauen dienen können. Als der Kommandeur der Basis erkannte, dass der Stützpunkt von den Terroristen überrannt worden war, rief er die beiden jungen Soldatinnen zu Hilfe, die mit ihren Panzern den Ansturm der Hamas Richtung Kibbutz stoppen konnten.

Die Folgen wiegen so schwer

Bis vor wenigen Tagen wurde Julias Sohn von Panikattacken geplagt. Dann schlug er seiner Mutter vor, ein Musikgeschäft aufzusuchen. Für einen symbolischen Preis durfte er sich auf Kosten der Inhaber eine E-Gitarre und das entsprechende Zubehör aussuchen. Seitdem sind die finsteren Gedanken weg – die Musik transportiert Heilung in sein junges Herz.

Für Julias Tochter ist es viel schwerer. Lange wurde noch nach der Familie ihrer Freundin in Be’eri gesucht, mit der sie seit der siebten Klasse die Schulbank gedrückt hatte. Schließlich wurde unter den vielen Opfern auch der Leichnam ihrer Freundin Noa identifiziert.

Das Erzählen tut auch gut: (v.l.n.r.) CSI-Mitarbeiterinnen Anemone und Alina, Valeria, Julia und Jelena im Kibbutz Revivim im November 2023.

„Unser Kibbutz Revivim hier hat 108 Opfer aus Be’eri beerdigt“, erzählt Valeria. „Vor Ort gab es keine Kapazitäten mehr. Dann gab es einen Aufruf, ob die Kibbutzmitglieder bitte zu den Beerdigungen kommen – viele der Opfer haben keine Familie mehr.“

Auch Jelena ist aus dem Nachbarkibbutz gekommen. Viele Jahre lang hat sie das Programm geleitet. Wir gehen von Geschichte zu Geschichte. „Da war ein Kibbutzbewohner, er war schon 85“, erzählt Jelena. „Als er gemerkt hat, was los ist, hat er seine ganze Familie in die Bodenkammer geschickt. Er selbst hat sich ins Wohnzimmer gesetzt. Als die Terroristen die Tür aufrissen, haben sie nur ihn gesehen. Sie haben ihn erschossen, dann sind sie wieder abgezogen. Genau damit hatte er gerechnet. Er hat sein Leben gegeben und damit seine ganze Familie gerettet.“ Jelena kommen die Tränen. Wir versuchen, Worte zu finden, um zu ermutigen und Hoffnung zu geben. Unsere mitgebrachten Blumensträuße aus Jerusalem bringen die Gesichter dieser tapferen Frauen zum Strahlen.

Keine Angst mehr

„Ich hatte viele Angebote wegzugehen“, erzählt Valeria. „Ich habe ja auch einen kleinen Sohn. Die schwerste Zeit war, als ich gerungen habe, was ich tun soll. Aber dann habe ich verstanden: Mein Platz ist hier und nirgendwo anders. Und dann wurde es wieder leichter.“ Für Valerias Mann war die Situation emotional noch schwieriger. „Er hat es von Anfang an mit der Sprache schwer gehabt. Und die israelische Musik hat er auch nicht gemocht. Jetzt hat er sich ehrenamtlich gemeldet, um Sandwiches für die Soldaten zuzubereiten. Dabei hört er die israelische Musik spielen und ihm kommen die Tränen.“

Nein, Jesaja 43 kenne sie nicht, sagt Valeria. „Du weißt doch, wir sind alle atheistisch aufgewachsen. Bitte lies vor!“ „Hab keine Angst, Israel, denn ich habe dich erlöst! (…) Wenn du durch tiefes Wasser oder reißende Ströme gehen musst – ich bin bei dir, du wirst nicht ertrinken. Und wenn du ins Feuer gerätst, bleibst du unversehrt (…) Denn ich, der HERR, bin dein Gott, der Heilige Israels.“

Valeria (r.) mit ihrem unverhofften Geburtstagsgeschenk.

Letzten Winter habe ich ein schönes rotes Schultertuch gestrickt, einfach zur Entspannung. Für wen, wusste ich noch nicht. Beim Packen habe ich es mit in den Koffer gelegt. Und jetzt Valeria um die Schultern. Sie ist einfach überwältigt. „Du kannst das nicht wissen, aber ich habe in ein paar Tagen Geburtstag! Ich habe mir in den letzten Wochen ganz nüchtern die Frage gestellt, ob ich ihn noch erleben werde. Und jetzt kommst du und gibst mir so ein persönliches Geschenk!“

Beim Abschied gibt Valeria mir noch auf den Weg: „Sag deinen Freunden: Ich habe keine Angst. Wirklich, ich habe keine Angst mehr. Vielleicht bin ich verrückt geworden. Oder ich habe etwas Größeres gefunden. Und ich weiß, dass es so ist. Ja, ich habe etwas Größeres gefunden als meine Angst.“

Als Christen an der Seite Israels danken wir allen sehr herzlich, die unsere Nothilfeaktion „Israel im Krieg“ unterstützen. Sie ermöglichen durch Ihre Spende, dass wir in Israel schnelle und direkte Hilfe leisten können.