• Inmitten von Kriegszerstörungen können wir in der Synagoge mit den betagten Gemeindemitgliedern ein Stück Chanukka vorfeiern. Alle Fotos: CSI
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Licht in der Dunkelheit: Chanukka-Wunder in der Ukraine heute

editor - 28. Dezember 2024

Von Anemone Rüger

Eigentlich ist der Dezember nicht die Jahreszeit, um Bedürftige in der Ukraine zu besuchen. Die Witterungsbedingungen erschweren die Mobilität, immer öfter fällt der Strom aus. Und trotzdem haben wir uns gerade jetzt für eine Chanukka-Tour entschieden. Wann, wenn nicht jetzt, sollten wir ein Licht in der Dunkelheit anzünden?

Auf dem abendlichen Weg vom moldawischen Flughafen zur ukrainischen Grenze fängt es an zu schneien. Früh am nächsten Morgen fahren wir durch ein Winter-Wunderland nach Kirowograd zu unserer ersten Chanukka-Feier.

Kirowograd – Zusammensein in der historischen, aber kalten Synagoge

Die jüdische Gemeinde in Kirowograd, das inzwischen Kropiwnitzky heißt, ist eine der wenigen glücklichen, die ihr Synagogengebäude nach dem Zerfall der Sowjetunion zurückbekam und mit erheblichen Investitionen wieder brauchbar machen konnte.

Die Temperatur im notdürftig beheizten Versammlungsraum der Synagoge ist so niedrig, dass man es mit Jacke und Mütze gerade so aushalten kann. Kaum jemand von den jüdischen Senioren geht noch aus dem Haus, geschweige denn im Winter; doch heute bleibt kein Stuhl leer. Für alle ist es ein Festtag.

Leider ist genau für den Beginn unseres gemeinsamen Essens ein zweistündiger Stromausfall angekündigt – das bedeutet noch mehr Kälte, Dunkelheit und kaltes Essen. Wir fangen trotzdem an.

Der ausgefallene Stromausfall

„Ich bin inzwischen ganz allein“, sagt Natalia. „Aber hier fühle ich mich wieder wie ein kleines Mädchen. Hier habe ich wieder eine Familie, und das habe ich euch zu verdanken!“

Herr Schnayderman kommt auf mich zu, will persönlich seine Wertschätzung zum Ausdruck bringen. „Es ist keine einfache Zeit für uns hier“, sagt er. „Ständig der Luftalarm, und wir müssen in den Keller. So ähnlich wie damals. Ich habe mich mit Mama und meinem Bruder versteckt; wir haben es nicht geschafft zu fliehen. Wir sind hier im Umland von einem Versteck zum anderen. So haben wir überlebt. Dass ihr an uns denkt – das ist für uns unendlich wertvoll!“

Herr Schnayderman, hier mit CSI-Mitarbeiterin Alina, macht den Krieg seiner Kindheit noch einmal durch. Er ist unendlich dankbar für die Ermutigung, die unser Team bringt.

Um 14 Uhr schaut Rabbi Dan auf seine Uhr, dann 14:10 und 14:15 Uhr. Die Heizkörper, die Herdplatten und die Lampen brennen weiter. Als alle sich wieder auf den Heimweg machen, stellen wir fest, dass der Stromausfall ausgefallen ist!

Das Gemeinschaftsessen in der historischen Synagoge von Kirowograd wärmt Leib und Seele; der Stromausfall bleibt aus.

Nikolajew – nur 50 Kilometer bis zur Front

Inzwischen haben wir in Nikolajew im Süden eingecheckt. Innerhalb von 24 Stunden haben wir gut 800 Kilometer auf moldawischen und ukrainischen Landstraßen zurückgelegt. Auch hier haben wir alle noch mobilen Senioren aus dem Patenschaftsprogramm zum festlichen Mittagessen in die Synagoge eingeladen; die anderen besuchen wir soweit möglich zu Hause. Unser Minibus ist bis zum Dach voll mit kleinen Aufmerksamkeiten – sogar Stollen haben wir bei Metro in Winniza gefunden!

Wir wohnen in den Hotelzimmern, die neu gemacht sind. Die andere Seite des Gebäudes, das direkt am Dniepr liegt, wird noch restauriert. Von außen sieht man den Flügel, der bei einem der vielen Raketenangriffe schwer beschädigt wurde.

Wir starten in einen unglaublich grauen Tag. Den Schnee haben wir lange hinter uns gelassen. Hier ist es wahrscheinlich auch ohne Krieg um diese Jahreszeit grau, doch jetzt umso mehr. Am Strom wird gespart; man sieht nur wenige jüngere Leute auf den Straßen. Viele Häuser haben Spanplatten vor den Fensterluken.

Kalter Kriegsalltag in den Straßen von Nikolajew.

Festessen inmitten heiliger Bücher

Nikolajew hatte ich mir bisher für bessere Zeiten aufgehoben. Von hier aus sind es nur 50 Kilometer bis zur Front in Cherson, wo jeden Tag der Tod vom Himmel fällt. Doch wir erleben die außergewöhnliche Gnade Gottes besonders in dieser Stadt – während der 48 Stunden, die wir hier verbringen, ist es bis auf einen Luftalarm am Vormittag ruhig. Wir können nachts neue Kraft tanken und tagsüber ohne Behinderungen Hoffnung und Freude in die Häuser bringen.

Der Blick in den Gebetssaal der Synagoge ist umwerfend. Im hebräischen Denken wird der geistliche Gottesdienst nicht getrennt von der Gemeinschaft beim Essen. Bei allen Regeln, die es zu beachten gilt, ist es völlig miteinander vereinbar, Tische aufzustellen und mit Essen zu beladen, während rundherum die heiligen Bücher in den Regalen stehen.

Rabbi Gottlieb begrüßt uns herzlich und unser festliches Essen kann beginnen, musikalisch umrahmt von zwei Musikstudentinnen. Ich bin seit mehr als drei Jahren zum ersten Mal wieder in Nikolajew. Rosalia zieht mich auf den Platz neben sich. „Ich bin so froh, dich wiederzusehen! Mir kommen die Tränen, ich kann nichts dagegen tun. Weißt du noch, wie wir uns letztes Jahr in Odessa gesehen haben, als mein Mann und ich dorthin geflohen waren? Ihr habt so viel für uns getan. Das werde ich nie vergessen!“

Prompt nach Beendigung unserer festlichen und leckeren Zusammenkunft ist es auf einen Schlag dunkel. Jetzt ist die Stadt noch viel dunkler. Umso wichtiger, gerade jetzt Licht in die Häuser zu bringen.

Simcha

Simcha ist 97 – und glücklich über unseren Besuch. Viele Jahre lang ist er jeden Tag in die Synagoge gegangen. Simcha zeigt mir das hebräisch-russische Psalmenbuch, das er von der Synagoge geschenkt bekommen hat. Wir behelfen uns mit der Handy-Taschenlampe und lesen Psalm 121 zusammen, in beiden Sprachen. „Ich habe meine Augen auf zu den Bergen… Siehe nicht schläft noch schlummert der Hüter Israels.“

Schwarzmeerstadt im Dunkeln

Mit jedem Kilometer steigt unsere Vorfreude auf das uns so vertraute Odessa. Hier kennen wir uns aus, hier sind wir zwei Autostunden weiter von der Frontlinie entfernt, hier sind wir immer willkommen.

Doch die üppige Weihnachtsdeko vor den Restaurants und Geschäften täuscht über die Realität dieses dritten Kriegswinters hinweg. Immer blockweise ist die Stadt über viele Stunden dunkel. Ich bin froh, dass ich mein Handy an der mitgebrachten Powerbank aufladen kann. Meine neue Stirnlampe hilft mir, die Geschenke für den nächsten Tag im dunklen Hotelzimmer zu sortieren.

Was tun?

Nach der dritten nächtlichen Sirene sitze ich mit meiner Kollegin Alina ziemlich müde am Frühstückstisch und frage mich, was wir jetzt machen sollen. Die Warn-App zeigt „Luftalarm: Erhöhte Gefahr“ an. Immer wieder sind die Explosionen der Luftabwehr zu hören.

Es gibt nur lauwarmen löslichen Kaffee vom Notstromaggregat im Restaurantkeller, wo wir in wenigen Stunden 70 Holocaust-Überlebende und jüdische Senioren für zwei fröhliche Chanukka-Feiern erwarten. Wir können nur beten und unser Gebetsnetzwerk aktivieren.

Zwei Sekunden, nachdem ich die SOS-Nachricht an meine Freunde abgeschickt habe, summt das Handy noch einmal: Entwarnung! Das nächste Chanukka-Wunder. Es bleibt den ganzen Tag ruhig. Gott breitet seinen Schutzschirm über uns und unsere Gäste.

Tumbalalaika, shpil Balalaika

Festlich gedeckte Tische, leuchtende Augen, Dutzende Umarmungen, überwältigte Worte der Dankbarkeit – die Atmosphäre ist phänomenal, gerade an diesem Tag. Lena, eine liebe Freundin vom Hilfsfond Esra aus Kiew, führt uns musikalisch durch die Veranstaltung – von Tumbalalaika über Am Israel Chai bis zur israelischen Nationalhymne. Jakow, einer der Senioren, der von einem Paten aus Deutschland unterstützt wird, begleitet sie auf der Geige. So viele Emotionen schwirren durch die Luft. Wir dürfen ein paar Stunden des oft so schweren und unglaublich einsamen Lebens unserer jüdischen Freunde teilen.

Die Gäste aus der jüdischen Gemeinde Odessa erheben sich zur israelischen Nationalhymne.

Den Tag von ganzem Herzen feiern

Svetlana, die schon fest abgesagt hatte, hat sich doch aufgemacht und will uns kaum wieder loslassen. Ein älterer Herr sagt mir: „Ich war letztes Jahr zum ersten Mal hier. Dieses Jahr komme ich mir vor, als würde ich zu einer Familienfeier nach Hause zu kommen!“ Eine Dame sagt: „Ich habe schon viele Veranstaltungen erlebt, aber das hier ist etwas anderes. Ihr macht das so von Herzen, mit so viel Liebe, das ist einzigartig!“

Svetlana ist unendlich froh, dass sie sich aufgemacht hat. Von unserem gemeinsamen Essen wird sie lange zehren.

Reweka, deren Familie aus Lodz stammt und die ich besonders ins Herz geschlossen habe, zeigt mir ihren Sohn auf dem Handy, in Uniform. „Er ist schwer verwundet worden. Jetzt braucht er ständig ein Beatmungsgerät. Er ist als Freiwilliger an die Front gegangen, aber außer einer jämmerlichen Behindertenrente bekommt er nichts weiter von der Armee. Es ist so traurig.“ Wir teilen ihren Schmerz. Und unsere liebe Inga zieht mich zur Seite und sagt: „Das ist so ein besonderer Tag für mich. Ich habe heute früh beim Arzt eine schlechte Nachricht bekommen. Ich weiß nicht, ob wir uns noch einmal wiedersehen. Ich habe mich entschieden, diesen Tag von ganzem Herzen zu feiern!“

Den Tisch decken für Gottes Perlen

Viermal lassen wir in Odessa die Tische eindecken – und würden am liebsten verlängern, denn es gibt noch so viele einsame jüdische Senioren, die wir gern einladen würden. Odessa hat immer noch einen hohen Anteil an jüdischer Bevölkerung, und seit zwei Jahren außerdem viele Flüchtlinge aus Cherson. Wir ergänzen die festliche Deko am reich gedeckten Tisch, versehen jeden Platz mit einem Schokoherz und einem Spruchkärtchen mit den Worten aus Jesaja 41: „Hab keine Angst, ich bin bei dir.“

Schon bevor alles gerichtet ist, füllt sich der Raum. Die meisten Gäste sind eine halbe Stunde früher da; sie haben sich so lange auf das Treffen gefreut. Roman Shvartsman, Vorsitzender des Verbands der Holocaust-Überlebenden im Großraum Odessa, ist unser Schlüsselkontakt. Auf sein Geheiß hin sind 40 Gäste gekommen, die in der Region Ghettos und Konzentrationslager überlebt haben. Wir lernen eine rüstig wirkende Dame kennen, die in Auschwitz geboren wurde. Am Stirnende sitzt Arkadi und unterhält sich auf Englisch mit unseren holländischen Gästen Frank van Oordt, CSI-Direktor in den Niederlanden, und seinem Bruder Roger, dortiger israelischer Honorarkonsul, die für eine Reihe Veranstaltungen mit dazugekommen sind. Arkadi hat bei den Nürnberger Prozessen ausgesagt und hat das Holocaust-Museum von Odessa gegründet.

Die Generation, die keine Kindheit hatte

„Wir sind die Generation, die keine Kindheit hatte“, sagt Roman. „Und jetzt zu hören, dass schon zu DDR-Zeiten Menschen in Deutschland jeden Tag für uns gebetet haben, und heute zu erleben, wie ihr uns hier empfangt, das tut uns unendlich gut!“

Am 29. Januar wird Roman anlässlich des 80. Jahrestages der Befreiung des KZ Auschwitz in Berlin von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier empfangen werden und dann im Bundestag sprechen.

Was am meisten gebraucht wird: Hoffnung

Lenas wunderbare Musik – ein Mix aus Jiddisch, Hebräisch und Russisch – macht unsere lieben Gäste einfach glücklich. Es ist so schön zu sehen, wie sie jede Minute unseres Zusammenseins genießen. Am Ende fangen sie an zu tanzen.

„Es gibt vieles, was wir hier an Hilfe brauchen“, sagt eine ältere Dame aus Cherson, die mit ihrer ganzen Familie Ende 2022 geflohen ist. „Aber die Tatsache, dass ihr euer komfortables Zuhause zurückgelassen habt, um hier bei uns zu sein – das bedeutet uns mehr als alles andere! Es gibt uns das, was wir am meisten brauchen: Hoffnung!”

Lieber Unterstützer: Alles, was unser Team unter stark erschwerten Bedingungen vor Ort in der Ukraine tun kann, um zu trösten, zu helfen und Heilung zu bringen, wird ermöglicht durch Ihre Unterstützung – durch jedes einzelne Gebet, durch jede einzelne Gabe. Wie viele Wunder haben wir in dieser Woche erlebt. Doch es braucht jemanden, der sie vom Himmel abruft. Für diesen kostbaren Dienst an der „Heimatfront“ möchten wir in dieser Adventszeit von ganzem Herzen DANKE sagen! Möge der Segen unseres liebevollen Vaters, den Sie helfen freizusetzen, reichlich in Ihre Familie zurückfließen!

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Ukraine