Holocaust-Überlebende
Die Zeitspanne, in der den letzten Holocaustüberlebenden noch Hilfe und Wertschätzung entgegengebracht werden können, wird immer kürzer. Oft kommen zu den schweren Erinnerungen der Betroffenen auch materielle Nöte und unsägliche Einsamkeit hinzu. Viele haben keine Angehörigen und leiden unter den psychischen Spätfolgen der traumatischen Erfahrungen, die ihre Kindheit geprägt haben.
Berichte aus der Hilfe für Holocaust-Überlebende
ALLA
Vor drei Jahren schlug eine Granate im Hof von Allas Haus in Donezk (Ukraine) ein. Ihre Tochter konnte sie provisorisch in der jüdischen Gemeinde in Odessa unterbringen.
„Jetzt wird gleich das ‚jüdische Radio‘ angeschaltet“, meint Tochter Irina am Ende unseres Besuches mit einem Augenzwinkern. „Mama wird alle ihre Freundinnen hier in der jüdischen Gemeinde anrufen und von euch erzählen! Sie vermisst ihre Heimatstadt sehr. Die Freude, die ihr ihr gemacht habt, wird bis Chanukka reichen!“
LJOWA
Mein lieber Ljowa bekam das letzte Waffelherz von meiner Mutter. Das letzte Mal hat er mir vor versammelter Mannschaft in Uman seinen großen Respekt für unsere Arbeit bekundet und einen schon leicht vergilbten Bildband über seine Stadt überreicht, mit Handkuss.
In einem jüdischen Schtetl bei Poltawa hat er den ersten Teil seiner Kindheit verbracht. Dann mussten sie sich mit leichtem Gepäck und Wertsachen für den angeblichen Transport nach Palästina am Dorfplatz einfinden. Polizisten, Gewehre, Hunde… An der Wegbiegung war klar, wo es hin ging. In Sekundenschnelle wurden der kleine Ljowa und seine Schwester zur Seite gezogen – eine ukrainische Freundin der Mutter hatte sie begleitet und wurde mit ihrem ukrainischen Pass aus der Menschenschlange entlassen. Im Gebüsch konnten die beiden Kinder verschwinden, während ihre Familie weitergetrieben wurde. In ihrem Heimatort konnten sie nicht bleiben, also schlugen sie sich nach Uman durch, wo keiner sie kannte. Der Vater war an der Front.
Hungrig schlich sich der unauffällige blonde Ljowa mit seinen Freunden in die Nähe der deutschen Feldküche, wo es unwiderstehlich nach Essen roch. „Komm her, Iwan“, rief ein Soldat ihm zu und schöpfte einen Suppenrest in seine Blechdose. So überlebte Ljowa. Manchmal fanden sie Bonbonpapier von den Deutschen im Müll und schnupperten stundenlang daran. Nach dem Krieg kam Ljowas Vater von der Front zurück, die beiden fanden aneinander Halt.
Die Fotos seiner Eltern hängen im Wohnzimmer. Vor 20 Jahren hat Ljowa auch seine Frau begraben. „Bei euch gab es nach dem Krieg einen Marshallplan. Ihr hattet einen – na, wie hieß er gleich? Genau! Adenauer! Ihr habt mit eigener Hände Arbeit euer
Land wiederaufgebaut. Das ist ja auch nicht vom Himmel gefallen“, meint Ljowa.
„Uns waren solche Regierungschefs, wie auch eure Angela Merkel, leider nicht vergönnt. Vielleicht haben wir sie nicht verdient… Und so kommt es, dass es euch heute viel besser geht als uns, die wir eigentlich den Krieg gewonnen haben… Meine tiefe Verbeugung vor euch, dass ihr uns nicht vergesst und uns Rentnern in der jüdischen Gemeinde helft. Ich wünsche euch Gesundheit, Liebe, Glück und nur das Allerbeste!“
SVETLANA
Mein wichtigster Besuch am Dienstag in Bila Zerkwa war bei Svetlana. Sie kam uns schon auf der Treppe entgegen – „Meine Lieben! Ach, wie ich mich freue!“.
Ich hatte eine ganze Geschenktüte dabei – ein Hörgerät von Evi, ein Umschlag von meinem Bruder und seiner Frau, ein warmer Umhang von meiner Mutter („so etwas Kostbares!“), Mamas leckere Waffelherzen und ein Foto der guten Eltern. Svetlana ist überwältigt, macht sich Sorgen ob wir dann noch genug für uns haben.
Ihre ganze Kindheit ist sie mit ihrer Mutter von KZ zu KZ und von Dorf zu Dorf geflohen. Die Nazis haben sie als kleines Mädchen so zusammengeschlagen, dass sie einseitig Gehör und Augenlicht verlor. Tuberkulose, Geschwüre, Atemnot…
Sie erzählt eine Leidensgeschichte, die auch beim dritten Mal Hören schwer zu fassen ist – abgeklärt, als würde sie einen medizinischen Bericht verlesen. Dann schaut sie mir ernst in die Augen: „Du bist so schmal. Du isst zu wenig! Versprich mir, dass du gut essen wirst!“ Wir sammeln jetzt, damit wir sie im Sommer mit ihrem ebenfalls schwer kranken Mann zu einer Kur ans Meer schicken können.